Das philosophische Netz

In dem Moment, in dem ich dies hier schreibe, bin ich mir der Tatsache bewusst, dass alles, was in den folgenden Zeilen geschrieben steht, jeweils von mindestens einer Person, die es liest, als unzutreffend aufgefasst wird. Es würde mich auch nicht überraschen, wenn sich eine Person zu Wort meldete, die alles zusammen für falsch hielte. Der Grund dafür, dass ich mir dessen so sicher bin, hat mich bewogen, diese Zeilen zu schreiben. Er hat etwas damit zu tun, dass viele Menschen den Eindruck haben, es gebe wirklichen Erkenntnisfortschritt nur in den empirischen Wissenschaften. Die Philosophie hingegen drehe sich seit Jahrhunderten im Kreis, wenngleich sie dies mit immer größerer Virtuosität und Einsicht zuwege bringe.

Wer dieser Ansicht ist stellt sich unter „wirklichen Erkenntnisfortschritten“ wahrscheinlich das Ermitteln neuer Fakten (Auf dem Jupitermond Europa gibt es Wasser.) oder die Lösung von schwierigen Problemen (Wie kann man der globalen Erwärmung begegnen?) vor. Wer in diesem Sinne Erkenntnisfortschritte von der Philosophie erwartet, muss in der Tat von ihr enttäuscht sein. Nun kann es jedoch auch eine Erkenntnis sein, zu begreifen, was es bedeuten kann, in seinem Handeln frei zu sein, ein bestimmtes Verhalten als moralisch verwerflich zu bewerten, von der Existenz einer unsterblichen Seele auszugehen und dergleichen mehr. Es sind Erkenntnisse dieser Art, um die sich die Philosophie bemüht. Zwar können sich auch in den empirischen Wissenschaften die Erkenntnisse von heute morgen schon als Fehler erweisen, doch es sieht so aus, als wären die Ergebnisse der Philosophie aus prinzipiellen Gründen für derartige Revisionen besonders anfällig. Man hat nicht den Eindruck, dass die verschiedenen Antworten auf die philosophischen Probleme immer besser werden, sondern dass sie sich einfach nur mit den jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Umständen, vor deren Hintergrund sie formuliert werden, in ihrer Gestalt verändern. Es ist für die Philosophie wesentlich, dass zu jedem Zeitpunkt verschiedene zum Teil widerstreitende Antworten nebeneinander stehen. Widerstreitende Ansichten gibt es auch in den empirischen Wissenschaften, doch hier scheint sich immer irgendwann eine der Ansichten aufgrund der Erkenntnislage durchzusetzen.

Dies alles wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn die Philosophie nicht den Anspruch erheben würde, eine Wissenschaft zu sein. Sie möchte sich darin zum Beispiel deutlich von der Religion abgrenzen. Im Bereich der Religion mag jeder glauben, was er oder sie will, solange dies nicht zu Übergriffen auf andere Personen führt. Niemand erwartet von einer Religion, dass sie Erkenntnisfortschritte erzielt. Sie antwortet lediglich auf für Menschen anscheinend wichtige Fragen. Jeder Mensch muss bzw. kann diese Fragen neu stellen und sich um Antworten bemühen. Ich meine, dass die Philosophie hierin größere Ähnlichkeit mit der Religion hat als mit der, sagen wir Physik. Allerdings unterscheiden sich Religion und Philosophie radikal in ihrem Umgang mit Fragen und ihren Antworten. Sie greifen in einer Religion über die diesseitige Existenz des Menschen hinaus und zielen in der ein oder anderen Form ins Jenseits, die Philosophie erlaubt sich diesen Griff ins Jenseits nicht und versucht, sich hier und jetzt den existenziellen Fragen zu stellen und eine Antwort zu formulieren.

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